Was es wirklich bedeutet, (angehender) Marktforscher zu sein

Ein etwas anderes Berufsbild


Viele Menschen haben, abgesehen von den eigenen und zumeist eher unangenehmen Erfahrungen, die sie selbst bereits gemacht haben, keine Vorstellung davon, was Marktforschung eigentlich wirklich bedeutet. Geschweige denn davon, dass ein Marktforscher tatsächlich einen sehr wissenschaftlich ausgerichteten Beruf ausübt, der – zugegeben – objektiv betrachtet hin und wieder etwas verrückt wirken kann. Umso ferner liegt die Vermutung, dass man den Beruf Marktforscher in einer ganz konventionellen Ausbildung erlernen kann. Wobei, konventionell… nun, zumindest jedoch in Hinblick auf die Rahmenbedingungen kann man dies behaupten. Wenn du dich für den Beruf Marktforscher und die FAMS-Ausbildung interessierst, bisher aber keine Idee davon hast, wie genau der Berufsalltag eines Marktforschers aussieht, dann findest du im Folgenden ein Berufsbild der etwas anderen Art.

Der einzige Beruf, in dem Zufälle höchst willkommen sind


Die deutsche Orthographiebibel, der Duden, definiert das Substantiv „Zufall“ als eintretendes Ereignis, „was man nicht vorausgesehen hat, was nicht beabsichtigt war, was unerwartet geschah“. Während in der Adventszeit auch einigen Menschen der 24. Dezember als ein solch unvorhergesehenes Ereignis erscheint, nämlich dann, wenn sie am Morgen des 23. Dezembers immer noch nicht alle Geschenke besorgt haben, hat die Marktforschung über die Jahrzehnte ihre ganz eigene Definition des Begriffs „Zufall“ entwickelt und man könnte heute wohl sagen, dass der Berufsalltag eines Marktforschers vollkommen um die Bemühung kreist, den Zufall möglichst nicht zu einem nicht beabsichtigten Ereignis werden zu lassen. Im Gegenteil – wer Marktforschung betreibt, wird in gewisser Weise zum Dompteur des Zufalls, denn in der Marktforschung wird versucht, optimale Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich der Zufall zu seiner ganzen Pracht entfalten kann. Während Zufälle im Alltag oft weniger willkommen sind, wird ein Marktforscher gerne von Euphorie überwältigt, wenn ihm dieses Wort in Verbindung mit einer Stichprobe zu Ohren kommt.

Was ein Marktforscher wirklich tut


Das bedeutet natürlich nicht, dass ein Marktforscher am Morgen ins Büro kommt und mit verdeckten Augen die E-Mails auswählt, die er an diesem Tag lesen wird. Im täglichen Kontakt mit Kunden und Geschäftspartnern funktioniert die Büroroutine dieser Berufszunft wie in jedem anderen klassischen Bürojob auch: Ein großer Teil der Arbeit besteht aus Termin- und Methodenabsprachen (mit Kunden, Felddienstleistern und Programmierern), der Organisation (von Feldzeiten, der Rekrutierung von Probanden und Interviewern) und dem Schreiben von Angeboten und Berichten. Aber alles, was dazwischen geschieht, wirkt manchmal nahezu wie Zauberei.
Ich will Dich an dieser Stelle nicht mit Definitionen von Begriffen wie „Quote“, „Klumpenauswahl“ oder „ADM-Stichprobenverfahren“ langweilen. Die kennst Du entweder sowieso oder kannst sie, wenn Du kein Marktforscher bist, bei Bedarf leicht im Internet nachschlagen. Aber ich will mit dem Vorurteil aufräumen, das in den Köpfen vieler Menschen herumwabert, die keinen Kontakt zur Marktforschungsbranche haben, welches da lautet: Marktforschung bedeutet, sich willkürlich einige (zumeist unwillige) Passanten von der Straße oder am Telefon zu ‚schnappen‘ und diese danach zu fragen, welche Toilettenpapiermarke sie letzte Woche gekauft haben. Seriöse Marktforschung zu betreiben, setzt etwas ganz Anderes voraus und hier kommt der Begriff „Zufallsauswahl“ ins Spiel.

Möhrensuppe kochen und Menschen befragen – dasselbe Prinzip?


Statt mich einer trockenen Definition zu widmen, will ich lieber versuchen, Dir den Begriff anhand eines Beispiels zu veranschaulichen. Stell Dir vor, Du willst die perfekte Möhrensuppe kochen, lecker und würzig, weißt jedoch, dass es im Supermarkt knackige und frische Möhren gibt, die Deine Suppe schmackhaft machen werden, aber ebenso auch alte und labbrige Karotten, die die Qualität Deiner Suppe mindern. Wenn Du sicherstellen willst, dass Du wirklich nur die besten und frischsten Möhren für Deine Suppe kaufen wirst, müsstet Du sämtliche Karotten Deines Stammsupermarktes – oder besser noch, aller Supermärkte Deutschlands, die Möhren führen, die zum Kochen einer Möhrensuppe in Frage kommen – eingehend betrachten und untersuchen, um tatsächlich die idealen auswählen zu können.


Vielleicht wirst Du jetzt lachend den Kopf schütteln und denken, dass das ein verrücktes Beispiel ist und kein möhrenkochender Mensch auf dieser Welt über die Zeit und finanziellen Ressourcen für ein solch irrwitziges Unterfangen verfügt, ganz zu schweigen davon, dass dieser wahrscheinlich auch bereits beim Therapeuten auf der Couch liegen würde. Und natürlich hast Du recht damit. Aber im Prinzip ist dies genau das, was die Marktforschung versucht und worum sich – neben statistischen Auswertungsmethoden – viele Theorien drehen. Stell Dir die ideale Möhrensuppe als das Ergebnis einer Studie vor und die frischsten Möhren, die es auszuwählen gilt, als die gesuchten Probanden. Wie kann sichergestellt werden, dass wirklich die passenden Karotten bzw. Befragten für die Suppe bzw. Studie ausgewählt werden?

Grundgesamtheit und Stichprobe – die Zutaten einer gelungenen Studie


Auch ein Marktforschungsinstitut kann, z.B. für eine nationale Studie, nicht alle Menschen in Deutschland vorab kontaktieren, um herauszufinden, wer am besten in das Studiendesign passen würde. Daher muss ein Marktforscher vorab definieren, wie eine solche Menschengruppe, die man in der Marktforschung als Grundgesamtheit bezeichnet, wahrscheinlich aussehen würde. Wenn wir, um bei dem Beispiel zu bleiben, Probanden dazu befragen wollen, aus welchen Zutaten sich für sie eine ideale Möhrensuppe zusammensetzt und welche davon sie selbst für die Zubereitung verwenden, dann wären dies vermutlich tendenziell mehr weibliche Personen ab ca. 25 Jahren, die gerne kochen.
Ab diesem Punkt stellen sich einem Marktforscher zwei weitere Fragen bzw. er wird mit zwei grundlegenden Problemen konfrontiert: Wie komme ich an diese Menschengruppe heran? Und wie kann ich sicherstellen, dass die Aussagen der vielleicht 200 Personen, die ich befrage, mit der Meinung aller anderen Menschen in Deutschland übereinstimmen? Ersteres Problem lässt sich im Verhältnis relativ einfach lösen. Der Marktforscher beauftragt einige Interviewer damit, z.B. so viele Menschen per Telefon anzurufen, bis 100 Stück zusammengekommen sind, die sich mit den Zutaten für eine Möhrensuppe auskennen und dazu befragt werden können. Diesen eingeschränkten Personenkreis bezeichnet man als Stichprobe und mit solchen telefonischen Umfragen sind wir sicherlich fast alle schon einmal in Berührung gekommen – nur natürlich nicht zum Thema Möhrensuppe.

Das Problem der Zufallsauswahl


Doch wie soll das zweite Problem gelöst werden? Wie soll der Marktforscher sicherstellen, dass die Ergebnisse seiner Studie die Meinung aller Menschen in Deutschland repräsentieren und nicht nur die der 200 befragten Personen? Denn Repräsentativität, d.h., dass die Aussagen, die auf Grundlage der Ergebnisse einer Marktforschungsstudie getätigt werden, sich auf die gesamte deutsche Bevölkerung übertragen lassen, ist in der Theorie das Ziel einer jeden Untersuchung. Dieses Merkmal ist nicht für jede Fragestellung relevant, aber wenn es so sein sollte, z.B. bei einem sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand oder Markt-Media-Studien, werden geradezu abenteuerliche Bemühungen unternommen, um die Menschen, die an der jeweiligen Befragung teilnehmen sollen, möglichst zufällig auszuwählen. Möglichst zufällig bedeutet in der Marktforschung: Alle Personen müssen die gleiche bekannte Chance haben, in die Stichprobe zu gelangen, die am Ende befragt wird, denn ausschließlich auf diese Art kann weitestgehend sichergestellt werden, dass die Ergebnisse nicht dadurch verzerrt sind, dass nur ein bestimmter Personenkreis seine Meinung zu einem Thema abgibt. Wir können uns z.B. sicher sein, dass ein Afd-Mitglied in Hinblick auf die Migrationssituation in Deutschland eine der einem Mitglied der Grünen sehr entgegengesetzte Position vertreten wird.
Wenn Du jetzt wieder an das Möhrenbeispiel zurückdenkst – da wartet ziemlich viel Arbeit auf den Marktforscher, wenn gewährleistet werden soll, dass alle Möhren dieselbe Chance haben, in die Suppe zu gelangen, denn zu den Möhren in den Supermärkten kommen auch noch die auf dem Feld und in den Lagern hinzu! So sehr die Marktforschung also an die Macht des Zufalls glaubt, sie überlässt ihn nicht sich selbst, ganz entsprechend der Überzeugung von Friedrich Dürrenmatt: „Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall treffen.“

Deine Wohnstraße – in der Marktforschung Teil eines großen Ganzen


Daher gibt es, um den Zufall möglichst systematisch herbeizuführen und alle Menschen zu Zufallsfaktoren zu machen, in der Marktforschung Auswahlmethoden, die ganze Geschwader von Interviewern über Monate in Atem halten können. Das aus außenstehender Perspektive verrückteste Verfahren ist wohl das Random Route. Fall Du es noch nicht wusstest, dann erfährst Du es nun: Ganz Deutschland ist von Netzen und Karten überzogen, die unser Land in Teilsegmente gliedern und einzig das Ziel verfolgen, jede einzelne Straße und jede Telefonnummer zu einem Sandkörnchen im Getriebe des Zufalls zu machen. Ohne es zu wollen (oder ohne es zu wissen) bist Du also bereits Teil einer Schicksalsgemeinschaft, die zwar nicht über das Schicksal von Mittelerde entscheidet, aber immerhin vielleicht darüber, ob es deutschen Privathaushalten wirklich so gut geht, wie die Politik wieder einmal behauptet. Oder eben darüber, ob die nächste Taschentuchkollektion von Tempo mit Blumen oder Katzen bedruckt wird.

Das Random Route-Verfahren als Spielwiese des Zufalls


Aber zurück zum Random Route. Dabei werden unter den Interviewern besagte vorab abgesteckte Gebiete oder Regionen in Deutschland verteilt, die diese nach bestimmten zufällig definierten Vorgaben begehen müssen, um eben möglichst zufällig Bewohner und deren Meinung für eine Studie zu gewinnen. Die Anweisung für einen Interviewer könnte z.B. ungefähr so lauten: „Starten Sie auf der rechten Straßenseite an der Ecke Mühlenstraße / Bergring beim ersten Haus und gehen Sie die Mühlenstraße bis zum Ende hinauf. Klingeln Sie auf der rechten Straßenseite an jeder dritten Haustür und versuchen Sie dort ein Interview zu realisieren.“ Leben mehrere Personen im Haushalt, wird ein weiteres Verfahren eingesetzt, z.B. der sogenannte Schwedenschlüssel oder das Last-Birthday-Verfahren, um auch hier wieder möglichst zufällig zu wählen, welcher Bewohner interviewt werden soll. Dieses Verfahren, das wohl den Albtraum eines jeden weniger planungsaffinen Menschen darstellt, ist die Königsdisziplin der Markt- und Sozialforschung und bringt auf den Punkt, wonach die Disziplin strebt: So zufällig wie möglich generierte Meinungen, deren Zustandekommen jedoch in keinerlei Hinsicht dem Zufall überlassen wurde.

Objektivität als Gütekriterium


Um Deinen Blick auf die Marktforschung wieder etwas ins rechte Bild zu rücken: Das Random Route-Verfahren ist, wie Du Dir sicher denken kannst, sehr teuer und aufwendig und wird mittlerweile deshalb nur noch bei großen, gesellschaftlich relevanten und wichtigen Studien eingesetzt, die auf die Repräsentativität ihrer Ergebnisse angewiesen sind. Es zeigt jedoch schön auf, wie viele Konzepte und Gedankengänge sich hinter einer Marktforschungsstudie verbergen. Denn dieses auf den ersten Blick so witzig und kurios erscheinende Prozedere hat einen ernsten Hintergrund: Um gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen zu können und Daten zu erhalten, die eine zuverlässige Grundlage für Aussagen über die deutsche Bevölkerung für Entscheidungen in Politik und Wirtschaft bereitstellen, darf die Auswahl der Probanden nicht völlig den immer von subjektiven Motiven geleiteten menschlichen Selektionskriterien überlassen werden. Insofern eine ehrliche Methodenausführung und Berichterstattung stattfindet, kann man also mit Recht behaupten, dass die Meinungen, die Marktforschungsstudien erheben, zu den neutralsten und unverfälschtesten gehören, die man erhalten kann.

Gewollte Zufälle und ungewollte Zwischenfälle


Leider kämpft auch die Marktforschung gegenwärtig mit gesellschaftlichen Tendenzen, die Auswahlverfahren wie das Random Route immer schwerer durchführbarer oder gar unmöglich machen. Viele Menschen sind heutzutage misstrauisch, wenn Fremde durch ihre Vorgärten ‚spazieren‘ (was eigentlich kein professioneller Interviewer tut) und an Haustüren klingeln, weshalb sich immer mehr Interviewer mit polizeilichen Maßnahmen oder gar Übergriffen konfrontiert sehen.
Um das Gütekriterium der Objektivität aufrecht zu erhalten, ist es deshalb wichtig, dass die Marktforschung in Hinblick auf Verfahren der Zufallsauswahl in Teilbereichen zukünftig entweder neue Wege beschreitet und umzudenken beginnt oder verstärkt in Aufklärungskampagnen investiert. Denn obwohl es letztendlich natürlich die Institute und Unternehmen sind, die von den Menschen das erhalten und finanziellen Nutzen daraus ziehen wollen, was gerne als das Gold des 21. Jahrhunderts bezeichnet wird, nämlich ihre persönlichen Daten und Meinungen, profitiert doch auch die Gesellschaft als solche von den Erkenntnissen, die aus diesen Studien gewonnen werden. Ich bin mir z.B. sicher, an der Entwicklung Deines Lieblingsschokoriegels waren auch viele Menschen beteiligt, die nicht zu den Mitarbeitern des Produzenten gehören: All jene, die in Marktforschungsstudien ihre Meinung zum Geschmack des Riegels abgegeben haben. Und das ist nur ein kleines und eher unbedeutendes Beispiel.

Ich wünsche Dir eine schöne Weihnachtszeit, ein frohes Fest und einen guten Rutsch ins Jahr 2020 – und vielleicht denkst Du nach diesem Text, wenn vor Weihnachten jemand durch Deinen Vorgarten schleicht, ja nicht „das ist entweder der Weihnachtsmann oder ein Verbrecher“, sondern „das ist entweder der Weihnachtsmann oder ein Interviewer“.

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