Die Uneindeutigkeit von Sprache als grundlegendes Dilemma der Marktforschung

Die Uneindeutigkeit von Sprache als grundlegendes Dilemma der Marktforschung

Jeder Markt- und Sozialforscher arbeitet nicht nur mit Zahlen und statistischen Methoden, sondern vor allem auch mit Sprache. Sie ist das Grundgerüst, auf dem Meinungsforschung fußt. Doch wie sicher kann sich ein Marktforscher sein, dass das, was er da als Ergebnis vor sich liegen hat, wirklich ist, was Probanden denken? Wie gefährdet ist die Validität von Daten durch sprachliche Verzerrungen, wie (unbewusst) individuelle Lesarten des Forschers und die Heterogenität der Sprachkompetenz auf Seite der Probanden, die bereits bei der Erstellung des Fragebogens die Weichen für den Erfolg oder Misserfolg eines Projekts stellen können? Die Uneindeutigkeit von Sprache birgt gewisse Fallstricke, die sich nicht gänzlich ausschalten, aber durch ein gutes Qualitätsmanagement und den reflektierten Umgang mit Befragungsmethoden weitestgehend reduzieren lassen.

Selbst Goethe war Sprache als Mittel des Ausdrucks nicht genug


Im Studium hatte ich täglich mit literarischen Texten und Sprache im Allgemeinen zu tun. Obwohl bei manchem Schriftsteller oder mancher Schriftstellerin hier und da anklang, dass Sprache Grenzen habe, bekam man in meinen Augen, während man sich mit Goethe, Hermann Hesse, Annette von Droste-Hülshoff oder Bettina von Arnim beschäftigte, nicht unbedingt den Eindruck, dass Sprache – oder zumindest die Sprache dieser Männer und Frauen – Grenzen kennt, dass es tatsächlich Gedanken und Bilder gibt, die man mit ihr nicht eindeutig ausdrücken kann. Goethes lebenslang schwelendes Bedauern darüber, dass er nicht genug Talent besaß, um auch Maler zu sein, habe ich nachvollziehen können, aber nie wirklich verstanden. Zu überwältigend waren die Bilder in  Goethes Kopf, die er allein mit Worten auf Papier in Form brachte und ganze Epochen damit rahmte. Was könnte dieser Wortkünstler, der heute unsere literarische Nationalfigur ist, an seinem Schriftsteller- und Dichterdasein vermisst haben?

Sprache in der Marktforschung: Von der Kunst, den Ton der Zielgruppe zu treffen

Vielleicht könnte man sagen, dass meine Kommilitonen und Kommilitoninnen und ich nach unserem Studium und langen Jahren literarischer Auseinandersetzung mit einem selbstverständlichen Gottvertrauen in die Kraft von Sprache ausgestattet waren. Auch während meiner poststudentischen journalistischen Ausflüge war ich stets davon überzeugt, dass die Menschen mich und meine Worte zweifelsohne verstehen würden, denn sie waren doch sorgfältig gewählt. Oh, wie falsch lag ich damit! An der Uni wurde es zwar in der Theorie gelehrt, aber erst seit ich in der Marktforschung arbeite, bekomme ich in der Praxis tatsächlich einen Eindruck davon, welch erschreckender Mangel dem gesprochenen und geschriebenen Wort innewohnt: Es ist uneindeutig. Worüber sich in der Literaturwissenschaft niemand Gedanken machen brauchte, weil man sowieso nichts anderes tat als in Worte Sinn hineinzudeuten, kehrt sich in der Marktforschung nun um. Fragebögen, in die vom Probanden Sinn hineingedeutet werden muss, sind der Todesstoß für jedes Projekt und in meinem ganzen Leben habe ich noch nie so sehr an meiner Wortwahl zweifeln müssen wie in der Ausbildung. In der Marktforschung wird man bei jeder Studie aufs Neue seiner Worte beraubt und muss seine eigene Sprache neu erfinden beziehungsweise versuchen sie dem Sprachduktus der anvisierten Zielgruppe anzupassen. Der Sprachhabitus an der Uni war eindeutig, zumindest innerhalb des jeweiligen Fachbereichs: Er war sachlich, neutral, wissenschaftlich, bildungssprachlich und auch bei Fachbegriffen konnte man sich stets darauf verlassen, dass jeder diese verstand. Wenn ich jetzt bei Projekten mithelfe oder in der Schule Fragebögen erstelle, kann ich alles sein, aber nicht mehr sicher, dass mich jeder versteht. So beginnen die meisten Projekte mit dem Rätselraten darüber, wie genau die Zielgruppe der Studie aussehen wird und wie man mit dieser auf sprachlicher Ebene kommunizieren kann – oder vielmehr muss, damit die Probanden am Ende auch wirklich das beantworten, was der Auftraggeber wissen möchte.

Uneindeutigkeit und Heterogenität als grundlegende Problematik von Sprache

Man könnte vielleicht sagen, dass ich im Germanistikstudium die Uneindeutigkeit von Sprache als etwas sehr Positives kennengelernt habe, denn unter anderem um die Interpretation von Texten hat sich mein Alltag gedreht. In der Ausbildung erlebe ich sie nun als etwas Negatives. Was jedoch nicht unbedingt schlecht sein muss, denn es ist wertvoll, die Grenzen des Gegenstands zu kennen, mit dem man arbeitet. Die Welt der Markt- und Sozialforschung scheint für weniger Involvierte vor allem aus Zahlen und statistischen Methoden zu bestehen, doch das, was diesen Daten Leben einhaucht und sie Form und Sinn annehmen lässt, ist die Sprache. Die Sprache ist ebenfalls das Mittel, mit dessen Hilfe die Daten gewonnen werden. Damit ist der Grundbaustein der Markt- und Sozialforschung das gesprochene oder geschriebene Wort, das mittels statistischer Methoden quantifiziert und in allgemeingültige Aussagen umzuwandeln versucht wird. Doch wie sicher kann ein Marktforscher in dem sein, was er aus unzähligen Antworten herauszulesen glaubt, wenn hinter jeder einzelnen Antwort ein Mensch mit individueller Sprache steht und auch der Forscher selbst nicht frei von subjektiven Lesarten ist, die sein eigenes Leben in ihn hineingeschrieben hat? An dieser Stelle manifestiert sich im schlimmsten Fall ein besorgniserregendes Aufeinanderprallen von dem, was man aus einer Antwort herauszulesen glaubt und dem, was der Mensch hinter dieser Antwort eigentlich mit seinen Worten gemeint hat. Denn neben der Einsicht, dass Sprache generell uneindeutig ist, kommt eine weitere hinzu: Die, dass die Menschen nur sehr eingeschränkt über eine homogene Sprachkompetenz verfügen, selbst dann, wenn sie denselben Sprach- und Kulturraum teilen.

Der Interviewer kann sprachliche Distanzen überbrücken helfen

Auf den ersten Blick mag es nicht so erscheinen, als ob die allgemeine Uneindeutigkeit von Sprache und die unterschiedliche Sprachkompetenz von Menschen große Auswirkungen auf Marktforschungsprojekte haben könnten, aber es gibt genug Befragungsmethoden oder Frageformen, die in dieser Hinsicht problematisch sind, beispielsweise CAWIs (Computer Assisted Web Interviews) oder offene
Fragestellungen, die im Anschluss an die Befragung codiert werden müssen. Bei CAWIs, CASIs (Computer Assisted Self Interviews) oder postalischen Befragungen fehlt zum Beispiel die Anwesenheit eines Interviewers, der ansonsten eine gewisse Kontrolle über die Befragungssituation hat und eingreifen kann beziehungsweise für Rückfragen zur Verfügung steht, wenn ein Proband Gefahr läuft eine Frage fehlzuinterpretieren oder ihm ein bestimmter Begriff nicht bekannt ist. Auch den korrekten Gebrauch von Skalen kann er bei Bedarf sicherstellen und – was in solchen Fällen essenziell ist – Rückmeldung an das
durchführende Institut geben, wenn eine Fragestellung oft nicht korrekt verstanden wurde und deshalb Vorsicht bei der Interpretation der Antworten geboten sein könnte. Aus diesem Grund sollte sich beispielsweise bei CAWIs jeder Marktforscher immer der Tatsache bewusst sein, dass er niemals mit 100 %iger-Sicherheit davon ausgehen kann, dass das, was er da als Antwort vor sich liegen hat, wirklich das ist, was der Proband sagen und ausdrücken wollte. Ein Onlineinterview ist immer eine Art Black Box, bei der man nach Freigabe des Fragebogens nie weiß, welche kognitiven Prozesse während des Interviews tatsächlich beim Befragten ablaufen. Der Marktforscher hält nach Abschluss der Feldphase lediglich den Output seiner im Vorfeld angestellten Vermutungen in den Händen, auf welche der Fragebogen ausgerichtet wurde.

Umsichtiger Umgang mit Sprache als Grundvoraussetzung guter Marktforschung

Das zweite Grundproblem ist in der Regel, dass man auch als erfahrener Marktforscher nicht frei von der lästigen menschlichen Angewohnheit ist, den eigenen Wissens- und Erfahrungshorizont als Maßstab oder Ausgangspunkt an andere Menschen anzulegen. Als ich meine Ausbildung begonnen habe, fiel mir nach und nach auf, wie wenig Konsens man für Befragungen tatsächlich bei den Probanden voraussetzen kann. Selbst vermeintlich gebräuchliche Begriffe wie „Einzelhändler“ werden nicht von allen Menschen auf die gleiche Art und Weise definiert, interpretiert oder überhaupt verstanden. Dementsprechend groß und divers fällt in solchen Fällen das Antwortspektrum aus, das man von der Gesamtheit der Befragten zurückgespielt bekommt. Das ist – je nach Studie – nicht unbedingt gewünscht und zielführend, da sich im Endeffekt nur wenige Antworten ergeben, mit denen man als Forscher wirklich arbeiten kann. Handelt es sich bei den Antworten dann auch noch um Aussagen zu einer offen gestellten Frage, gehen die Probleme nahtlos weiter. Wenn es – außer der gestellten Frage – keinen weiteren Kontext für eine Antwort gibt, fällt es immer schwerer, diese korrekt einem Code zuzuordnen, je weniger eindeutig sich die Aussage auf die grammatikalische Form und den konkreten Inhalt der Frage bezieht. Dieses Minenfeld beginnt schon bei vermeintlich banalen Antworten. Ich bin mir sicher, über der Frage, ob man „gute Angebote“ dem Code „günstige Preise“ zuordnen kann oder doch lieber die Kategorie „optisch ansprechend“ wählt, sind schon viele Ehen zwischen Marktforschern zu Bruch gegangen. Natürlich legt die Antwort „gute Angebote“ auf die Frage, was einem an seinem bevorzugten Lebensmittelhändler besonders gefällt, die Vermutung nahe, das damit die günstigen Preise der Sonderangebote gemeint sind, aber warum soll ein auf visuelle Aspekte fixierter Mensch damit nicht auch einmal die hübschen Farben des neuen Prospekts meinen? Beim Codieren ist aus genau diesem Grund immer größte Umsicht geboten, damit sich das eigentlich objektive Reporting nicht in eine subjektive Interpretation des Codierers verwandelt.

CAWIs als sprachliches ‚Problemkind‘

Die Marktforschung, die sich dieses Dilemmas bewusst ist, kann hier eigentlich nur Schadensbegrenzung betreiben, indem sie beispielsweise versucht die Sprache der anvisierten Zielgruppe bestmöglich zu imitieren und Fragestellungen so zu formulieren, dass sie lediglich den geringstmöglichen Interpretationsspielraum lassen. Auch der Einsatz gut ausgebildeter und geschulter Codierer gehört dazu und die ständige Abwägung, ob ein Studienthema inhaltlich wirklich selbsterklärend und verständlich genug ist, um als CAWI oder CASI durchgeführt zu werden. Man mag jetzt einwenden, dass man im Zeitalter der modernen Technik ja die Möglichkeit hat, den Fragen und Skalen schriftliche Erläuterungen zur Seite zu stellen, die der Proband bei Bedarf aufrufen kann, aber aus germanistischer Perspektive kann ich sagen, dass mehr Text nicht unbedingt zu eindeutigeren Aussagen führt. Vielmehr kann er zu weiteren Interpretationen und Missverständnissen einladen und den Befragten zusätzlich frustrieren und kognitiv belasten. Außerdem ergeben sich beim Studienteilnehmer eventuell Fragen, die der Fragebogenersteller nicht vorausgesehen hat. Aus all den bis hier genannten Gründen bieten Gruppendiskussionen, Einzelinterviews und F2F- oder zumindest telefonischen Befragungen einen großen Vorteil, da die Moderatoren und Interviewer gezielt nachfragen, flexibel reagieren und weiter in die Tiefe gehen können, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass bei den Teilnehmern Unklarheiten über Inhalte, Formulierungen und Begriffe bestehen. Und nicht zuletzt ergeben sich aus der dynamisch-sprachlichen Interaktion oftmals neue Aspekte.

Warum Marktforschung wissen sollte, wie Menschen sprechen

Für die Marktforschung ist es aber nicht nur wichtig generelle Zielgruppenspezifika und sprachliche Hürden zu berücksichtigen, sondern als Markt- und Sozialforscher muss man auch Schritt halten mit der Sprachbildung einer ganzen Bevölkerung. Heutzutage bedeutet dies – und darüber klagen Deutschlehrer ihr Leid –, dass das Leseverstehen aufgrund der Informationsüberflutung und -verdichtung im Internet schlechter wird und die Aufmerksamkeitsspanne abnimmt, während die instinktive Handhabung digitaler Befragungen bei den Probanden besser wird und beispielsweise Skalen intuitiver ‚bedient‘ werden können. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Ansprüche an die Fragebogengestaltung: Je stärker Bücher von Kurztexten und Bildern im Internet und in anderen digitalen Formaten ersetzt werden, desto kürzer, prägnanter, präziser und einfacher müssen Fragebögen auf der sprachlichen Ebene gehalten werden und desto kreativer, komplexer und umfassender dürfen sie auf der technischen Ebene werden. Forschungsinteressen, die mit komplexen sprachlichen Erfordernissen korrelieren, sollten unter Berücksichtigung des Wunsches nach hoher Datenqualität nur noch durchgeführt werden, wenn die Begleitung oder Anleitung der Probanden durch einen Interviewer oder Moderator sichergestellt werden kann.

Im Zweifelsfall: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Ich für meinen Teil musste in den letzten beiden Jahren feststellen, dass man in der Literaturwissenschaft viel über Interpretation, aber wenig über zielgerichtete Kommunikation lernt – einen weiteren wesentlichen Aspekt von Sprache. Was Goethe am Schreiben vermisst haben könnte, habe ich erst wirklich verstanden, seit ich in der Marktforschung arbeite: Mit Sprache kann man Menschen niemals so direkt, universell und intuitiv erreichen wie mit Bildern.


Bildquelle: https://pixabay.com/de/photos/literatur-buch-seite...

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